In Saas-Fee ist Snowboarden nicht nur ein Hobby. Es ist der Versuch, großstädtische Kultur in die Winterurlaubsprovinz zu übertragen – und zugleich ein Lebensgefühl. Statt „Anton aus Tirol“ dröhnt HipHop über die Pisten, statt Weißbier gibt’s Marihuana.

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Saas-Fee: Hochburg der Bretttrickser

 

Alessandro Boyens nennt sie die Entscheidung seines Lebens. Diese Frage, die sich ihm vor sieben Jahren stellte: Sollte er in Hamburg bleiben und auf die Schauspielschule gehen? Oder lieber, was schon lange sein Traum war, endlich das Snowboarden lernen? Alessandro sitzt im Schnee und schnürt die Snowboard-Stiefel. Er ist 27, wohnt nun in Saas-Fee und steht fast jeden Tag auf dem Brett. „Als ich hier im Urlaub 2002 das erste Mal meine Bindung schloss“, sagt er, „habe ich gespürt, dass es mein Leben verändern wird.“

Alessandro war damals 20 und zuvor noch nie in den Bergen gewesen. „Ich war hin und weg“, sagt er. „Vom Snowboarden, von den Ridern, von Saas-Fee.“ Er blickt auf die puppenhauskleinen Chalets im Tal, zieht die Schutzbrille über, springt auf und setzt an, zum ersten Schwung, lässt sich fallen in den konturlosen weißen Raum.

Ein paar Meter hinter ihm gleitet Phil Bucher den Hang hinunter, seine rechte Hand fährt durch den Schnee. Die gelbe Jacke und Hose sind ein paar Nummern zu groß. „Ist bequemer“, sagt Phil, als er vor der Halfpipe am Freestylepark nahe der Mittelstation Morenia in einen Liegestuhl plumpst, während Alessandro ein paar Sprünge probt. „Weite Klamotten sind easy. Sie passen zur Seele des Boardens.“ Er zieht an seiner Zigarette und dreht sein Gesicht zur Sonne. Phil ist 29 Jahre alt, 19 davon fährt er Snowboard. Irgendwann einmal hat er eine Ausbildung zum Koch gemacht, dann aber das Label „nnim“ gegründet, für das er Snowboard-Kleidung entwirft. Die Idee kam auf dem Brett. Dort, sagt Phil, habe er die besten Ideen.

„Zu viel Respekt vor dem Berg“

Mit einem Salto jumpt ein Boarder aus der Pipe, wirbelt durch die Luft, landet seitwärts und schrappt in lässiger Haltung Richtung Liegestühle. Es ist der 17-jährige Aurel Anthamatten. „Geiler Style, Aurel“, sagt Phil und deutet auf den freien Platz neben sich. Sie wechseln Fachausdrücke. Alley Oop, Backflip, Stiffie, Indy Nosebone. Ihr Bewegungsalphabet setzt sich aus zahllosen englischen Vokabeln zusammen, so wie das Ballett aus französischen Begriffen besteht. Als Alessandro den beiden von der Gondelstation aus winkt, drückt Phil seine Zigarette aus und steckt den Stummel ein. „Ich würde hier nie eine Kippe liegen lassen“, sagt er sehr ernst. „Zu viel Respekt vor dem Berg.“

Aurel und Phil fahren zu Alessandro, aus einem Lautsprecher wummert Sound von Busta Rhymes. Die üblichen Pistenschlager sind hier verhasst. Snowboarden ist nicht nur ein Hobby, sondern der kühne Versuch, großstädtische Popkultur in die Winterurlaubsprovinz zu übertragen.

1700 Menschen wohnen in Saas-Fee, das im deutschsprachigen Oberwallis liegt und ein Paradies für Erwachsene ist, die ein bisschen Kind sein wollen: Hotels, ausgestattet mit Playstation auf den Zimmern, Hütten, aus denen Hip-Hop- und Reggae-Töne dringen, Elektromobile, die wie Spielzeugautos aussehen – Saas-Fee ist komplett autofrei.

Inmitten ausgedehnter Gletscher sind hier mit die besten Schneeparks der Schweiz gewachsen. Schon in den frühen Neunzigerjahren durften die Boarder die Lifte benutzen, als sich fast überall sonst die Bergbahnen weigerten. Bei klarem Himmel sieht man Mailand, den Lago Maggiore und die schneebedeckte Silhouette der 13 Viertausender, die in der Sonne glitzern. Eine halbe Stunde dauert es mit dem Autozug durch den Lötschberg-Tunnel nach Saas-Fee, der für Einheimische der Weg zu größeren Städten wie Zürich oder Bern ist.

Wichtig ist die Individualität der Tricks

„Wenn viele Touristen da sind, ist es ein bisschen wie in der Stadt“, sagt Aurel, der in Saas-Fee aufgewachsen ist und jetzt mit Alessandro und Phil in der Gondelbahn zum Felskinn hinaufschwebt. Alle drei stehen auch im Sommer auf dem Brett, im ewigen Schnee des Allalingletschers. Alessandro, weil er Profi ist und trainieren muss. Aurel und Phil, weil es nicht viel anderes zu tun gibt in einem Dorf, das so klein ist, dass es keine Straßennamen braucht. Ebenso wenig wie Autos gibt es in Saas-Fee lange Einkaufszonen, und ein Ausgehviertel hat das Dorf schon gar nicht.

Hier birgt das Brett für junge Leute einen Traum: den Traum von Freiheit.

Alessandro arbeitete anfangs als Barkeeper im Fünf-Sterne-Hotel Ferienart, der besten Adresse im Dorf. Direktor Beat Anthamatten, Aurels Vater, der sich oft für die Saaser Boarder einsetzt, gab dem jungen Hamburger Geld, wenn der nicht genug hatte für ein neues Board. Eineinhalb Jahre später gewann Alessandro einen Wettkampf in Japan, den „Suzuki Big Air“. Seither hat er Sponsoren und kann gut von seiner Leidenschaft leben. „Wenn ich in Saas-Fee auf dem Brett stehe“, sein Blick schweift über eine türkisblaue Eisland-schaft, „vergesse ich alles um mich herum. Es ist der pure Rausch.“

Wie sie mit ihren sackartigen Jacken und durchhängenden Hosen aus der Gondel schlurfen, wirken sie nicht allzu motiviert. Demonstrative Gelassenheit ist Teil der Snowboard-Kultur, die sich nicht nur in der Kleidung, sondern auch in Sprache, Freiheitsdrang und Kreativität ausdrückt. Es geht im Kern nicht darum, alle Tricks zu können. Wichtiger ist, einen Trick individuell auszuführen, ihn einzigartig zu machen. Wenn Aurel, Alessandro und Phil über andere Fahrer reden, sprechen sie deshalb über deren „Style“, darüber, ob der „geil“, „easy“ oder überhaupt vorhanden ist.

„Wenn ich es schaffe, einem Sprung meine eigene Note zu geben“, sagt Aurel, „fühlt sich das an wie Schmetterlinge im Bauch.“ Den schwierigsten Sprung hat Aurel noch vor sich: Er träumt von einer Karriere als Profi. Einer aus seiner Nachbarschaft, der das erreicht hat, ist Frederik Kalbermatten. Er zählt zu den besten Fahrern der Welt. An diesem Nachmittag schießt er hinter einer Klippe abseits der Pisten empor, dreht sich einmal … zweimal … und landet wie eine Katze Meter weiter auf den Füßen. Der Kameramann, der mit ihm einen Film für eine Snowboard-Firma dreht, streckt den Daumen hoch.

„Snowboard fahren bedeutet Leben für den Moment“

Aurel schließt sich Frederik an, bis ins Tal pflügen die Rider nun gemeinsam durch den Pulverschnee. Was sie hinzaubern, sieht ein bisschen wie Skateboarden aus, manchmal wie Surfen oder Breakdance. Vier Fahrer, vier verschiedene Arten, zu fliegen. Frederik ist in dem Holzhaus gegenüber der Talstation aufgewachsen, das den Namen „Dorfblick“ trägt. Hier wohnt er noch heute. „Das Gelände ist mein Zuhause“, sagt er. „Dort oben, in den Bergen von Saas-Fee, fühle ich mich unendlich frei.“ Er verabschiedet sich von den Jungs per Handschlag.

In der Dämmerung laufen Alessandro, Aurel und Phil an wettergegerbten Holzstadeln entlang. Die waren früher mal Getreidespeicher. Ein paar Elektromobile surren vorüber wie Sternschnuppen. Es geht ins Popcorn, das so etwas wie das Herz der lokalen Rider-Szene ist. Unter all den Après-Ski-Bars gleicht es einem Ufo, von dem aus die Außerirdischen mit den quietschbunten Jacken morgens ausschwärmen, um abends wieder an der Theke anzudocken. Hier beginnt der Tag mit Milchkaffee und zuweilen hauseigener „Kater-Bouillon“. Hier endet er mit Blondem 25, dem Walliser Bier.

Die Beleuchtung ist schummrig, Marihuana-Duft liegt in der Luft, Gläser klirren aneinander. Hinter der Theke steht Anja Hübner, die von Deutschland nach Saas-Fee gezogen ist, aus Leidenschaft für das Brett. Phil unterhält sich mit Facundo Fernandez, dem Argentinier, der dank seiner Sponsoren jede Saison herkommt.

Sie erzählen alle dieselbe Geschichte: dass sie als Kinder Ski fahren gelernt haben und als Jugendliche aufs Snowboard umgestiegen sind. Kreative Individualisten, locker in den Knien, locker in der Lebensführung. Knochenbrüche, Gehirnerschütterung und Platzwunden hatte fast jeder hier schon. Alessandro zuckt die Schultern. „Snowboard fahren bedeutet Leben für den Moment“, sagt er. „Nicht für das Davor oder das Danach.“ Deshalb weiß er auch nicht, was er einmal macht, wenn er 40 ist.

Bis dahin wird es ja hoffentlich noch viele dieser besonderen Momente geben. Oben, in der weißen Welt über Saas-Fee.

Quelle: spiegel.de

Von cannabinus

Gebt den Hanf Frei!!!