Cannabis hatte jahrtausendelang in der Medizin einen festen Stellenwert. Heiler und Schamanen setzten die Heilpflanze unter anderem gegen Migräne ein, gegen Malaria, Gelenkbeschwerden, um Schmerzen zu betäuben nach Eingriffen und Geburten. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts kamen Hanfmedikamente im Zuge des allgemeinen Cannabisverbots vom Markt. In den letzten Jahren knüpfte die Forschung jedoch wieder an die ursprüngliche Nutzung der Hanfpflanze an. Wissenschaftler entdeckten, dass bestimmte, isolierte Cannabinoide nachweisbare Effekte gegen einige Krankheiten haben. Dazu zählen in erster Linie die Substanzen THC und CBD. Die Pharmaindustrie stellt sie synthetisch her. Anders als in Großbritannien und den USA sind in Deutschland die entsprechenden Medikamente nicht zugelassen, aber verschreibungsfähig nach dem Betäubungsmittelgesetz.
In USA und England zugelassen
Bis jetzt hat in Deutschland wahrscheinlich noch keine Pharmafirma die Zulassung eines THC- oder CBD-Medikaments beantragt. Denn dafür sind große Studien nötig, die die Wirksamkeit des Medikaments klar belegen – und die gäbe es nach ihrem Wissensstand nicht, erklärt Kirsten Müller-Vahl. In den USA und Großbritannien liegen einer Zulassung andere Kriterien zu Grunde. Deshalb sind die Cannabis-Arzneimittel dort auf dem Markt und in Deutschland nicht. „Man muss bei Cannabis ganz streng unterscheiden zwischen dem Einsatz von Cannabismedikamenten unter ärztlicher Kontrolle zur Behandlung verschiedener Erkrankungen und dem Haschischkonsum gesunder Freizeitkonsumenten“, betont die Neurologin.
Erfolgreich gegen Aids- und MS-Beschwerden
Die Arzneimittel können z. B. entzündungshemmend wirken, haben sich in der Behandlung von Nebenwirkungen einer Chemotherapie bei Krebs bewährt, lindern die Beschwerden durch Aids und Multipler Sklerose. „Auch gegen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Angst und Antriebsstörungen kann es hilfreich sein“, berichtet Kirsten Müller-Vahl. Sie behandelt mit Cannabis-Arzneimitteln erfolgreich vor allem Tourette-Syndrom-Patienten. Dabei handelt es sich um eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung mit motorischen und vokalen Ticks.
Ein Suchtrisiko besteht praktisch nicht, wenn ein Patient unter ärztlicher Aufsicht streng nach Anweisung ein Cannabis-Medikament einnimmt. „Dass Patienten unter ärztlicher Aufsicht eine Sucht entwickeln, die zu relevanten Problemen führt, ist unbekannt. Treten Ängste oder Euphorie tatsächlich auf, gilt das als Nebenwirkung und die Dosis wird reduziert oder das Medikament abgesetzt“, erklärt Neurologin Kirsten Müller-Vahl.
Naturprodukt versus Medikament
Lassen sich die Medikamente nicht einfach durch einen Joint ersetzen? „Ja und nein“, antwortet die Expertin für Cannabis in der Medizin. „Den Joint zu rauchen ist eine illegale Handlung, dazu würde ich keinem raten – außerdem ist niemals sicher, welche Wirkstoffe in welcher Zusammensetzung und Höhe Haschisch enthält.“ Letztendlich inhaliert der Konsument auch verbranntes Pflanzenmaterial, das Bronchien und Lunge schädigt. Allerdings akzeptierten wahrscheinlich einige Patienten diese Risiken: Einerseits um die umständliche Verordnungspraxis zu umgehen, andererseits sind viele davon überzeugt, dass die isolierte, synthetische Substanz nicht so gut wirkt wie das Naturprodukt mit seiner Mixtur aus vielen Substanzen. Hier fehlten noch Studien, die den Vergleich zwischen Einzelwirkstoff und natürlicher Mischung ziehen.