06.02.2008 – Erstmals hat die Bundesopiumstelle im letzten Jahr einer Patientin, die seit 14 Jahren an Multipler Sklerose erkrankt ist, gestattet, Cannabis in der Apotheke zu kaufen. Dazu ein Interview mit Prof. Hans-Peter Hartung, Vorstandsmitglied im Ärztlichen Beirat des DMSG-Bundesverbandes
Hintergrund: Seit Ende August 2007 darf eine Baden-Württembergerin für zunächst ein Jahr einen Extrakt aus der Hanfpflanze legal beziehen. Ein Arzt muss die Therapie begleiten. Cannabis ist in Deutschland verboten, bislang dürfen Ärzte nur den synthetisch hergestellten Cannabis-Wirkstoff Tetrahydrocannabinol verschreiben. Da die Substanz hierzulande nicht als Arzneimittel zugelassen ist, übernehmen die Krankenkassen die Kosten dafür nicht.
Bis Mai 2005 hatte die Bundesopiumstelle sämtliche Anträge von Erkrankten, Cannabis als Medizin einsetzen zu dürfen, pauschal abgewiesen. Ausnahmegenehmigungen würden nur für wissenschaftliche oder im „öffentlichen Interesse liegende“ Zwecke erteilt, lautete die Begründung. Dann, vor fast drei Jahren, urteilte das Bundesverwaltungsgericht, dass auch die Gesundheit von einzelnen Patienten im öffentlichen Interesse läge. Die Bundesopiumstelle müsse daher jeden Fall einzeln prüfen. Seitdem sind zahlreiche Einzelanträge beim Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn, dort hat die Bundesopiumstelle ihren Sitz, eingegangen. Darunter war auch der Antrag der MS-Patientin, dem inzwischen stattgegeben wurde.
Prof. Dr. med. Hans-Peter Hartung, Direktor der Neurologischen Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Vorstandsmitglied im Ärztlichen Beirat des DMSG-Bundesverbandes, Präsident des European Council for Research and Treatment in MS und Mitglied in der Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG), beantwortet vor dem Hintergrund dieser jüngsten Entwicklung Fragen zum Thema „Cannabis und MS“.
DMSG: Was kann die Einnahme von Cannabis bei Multipler Sklerose überhaupt bewirken?
Prof. Hartung: Beschriebene Wirkungen sind eine Minderung der Spastik sowie von Schmerzempfindungen. Mit dem schmerzstillenden Effekt mag auch der positive Effekt bei Schlafstörungen zusammenhängen.
Dabei ist die Studienlage allerdings noch unklar. Manche Experten glauben, dass die „antispastischen“ Effekte allein durch die so genannten psychotropen ( – auf die Psyche einwirkenden-) Wirkungen von Cannabis erklärbar sind. Objektive, von der Selbsteinschätzung der Patienten unabhängige Parameter wurden in den publizierten Studien nicht günstig beeinflusst.
Theoretisch kann die Besetzung von körpereigenen Cannabinoid-Rezeptoren neuroprotektive (-nervenschützende-) Wirkungen entfalten, dafür gibt es zumindest tierexperimentelle Hinweise, aber keine klinischen Daten.
DMSG: Wie schätzen Sie die Entscheidung der Bundesopiumstelle ein?
Prof. Hartung: Die publizierten Studien rechtfertigen aus meiner Sicht keinen breiten Einsatz bei der MS. Akut- (beispielsweise Übelkeit, Blutdrucksenkung) und Langzeitnebenwirkungen (Sucht- und Einstiegspotenzial) von Cannabis dürfen nicht unbeachtet bleiben. Im Einzelfall mag die Einnahme sozusagen als individueller Heilversuch nach Versagen zugelassener Medikamente und anderer denkbar wirksamer Pharmaka (-Arzneimittel-) vertretbar sein.
DMSG: Wo liegen die Unterschiede in der Wirkweise zwischen dem synthetischen Wirkstoff Tetrahydrocannabinol und dem Cannabis-Extrakt?
Prof. Hartung: Der Extrakt enthält eine nicht kontrollierte, nicht deklarierte und deshalb sicher auch nicht konsistente (-einheitlich zusammengesetzte-) Mischung von Cannabinoiden, weswegen es in nicht vorhersehbarer Weise zu schädlichen Nebenwirkungen kommen kann. Insofern sollte Cannabis zu therapeutischen Zwecken allenfalls in der synthetischen Form eingenommen werden.
DMSG: Die MSTKG hat 2004 in ihren Leitlinien zur Symptomatischen Therapie der Multiplen Sklerose empfohlen, die Gabe von Cannabis und Cannabinoiden nur im Rahmen von klinischen Studien oder in Einzelfällen durch MS-Therapeuten mit großer Erfahrung anzuwenden. Hat sich an dieser Empfehlung etwas geändert, haben klinische Studien in den letzten Jahre neue Erkenntnisse erbracht?
Prof. Hartung: Nein, diese Einschätzung ist weiterhin zutreffend. Größere Studien sind aber erfreulicherweise in Gang oder stehen kurz vor ihrem Beginn. Nach deren Abschluss und Auswertung wird man die Empfehlung gegebenenfalls anpassen.
DMSG: Warum ist es so schwierig, in klinischen Studien die Wirksamkeit von Cannabis nachzuprüfen?
Prof. Hartung: Was die symptomatischen Wirkungen auf Spastik angeht, so haben alle so genannten Spastikskalen ihre methodischen Probleme. Sie sind nicht besonders sensitiv. Spastik ist auch tageszeitlich sehr fluktuierend, dies ist schwer in Studien abzubilden. Ganz wesentlich ist die starke psychische/psychotrope Wirkung. Alle Selbsteinschätzungsskalen werden dadurch natürlich erheblich beeinflusst.
Bezüglich neurobiologischer Wirkungen im Sinne einer Neuroprotektion: Hier treffen dieselben Probleme zu wie bei anderen Pharmaka. Es fehlt einfach an wirklich überzeugenden Parametern zur objektiven Erfassung eines neuroprotektiven Effekts.