Von Reiner Burger, Dresden 18. Februar 2008 Dass es so nicht weitergehen kann, weiß Martin schon lange. Seit Jahren konsumiert er täglich Cannabis. Ohne Gras kann Martin an nichts anderes mehr denken als an das Rauchen. Ohne Kiffen schläft er schlecht und schwitzt stark. Ohne Rauschgift hat er depressive Verstimmungen. Vor neun Jahren begann Martin in seinem Hamburger Freundeskreis, Cannabis zu rauchen. Weil das alle taten und weil es ihm half, zu entspannen. Aber von Beginn an hat ihn der Stoff auch antriebslos gemacht. Und doch absolvierte er seine Lehre. „Seit meinem Studienbeginn in Dresden wurde der Konsum immer exzessiver“, sagt der 27 Jahre alte Mann. „Gleich nach dem Frühstück geht das los.“ Es ist ein verflixter Automatismus. Und regelmäßig sagt sich Martin, der Tag sei nun wohl eh gelaufen – und verschiebt alles auf morgen. Ein bis zwei Gramm Cannabis raucht er jeden Tag mit einer Wasserpfeife (Bong). In Hamburg war Martin noch aktiv, machte Sport, spielte Schlagzeug in einer Band. Doch in Dresden hat er kaum andere Bezugspersonen als Alex und Markus und die zwei Mitbewohner in seiner Wohngemeinschaft. „Manchmal komme ich tagelang nicht aus dem Haus, außer vielleicht zum Zigaretten-, Pizza- oder Dopeholen.“ Sein Studium der Betriebswirtschaft lässt er schleifen. Noch immer fehlen ihm Scheine für das Vordiplom, obwohl er schon im siebten Semester ist. Aber er kann sich zu oft nicht aufraffen und versäumt zu viele Seminare. „Wenn ich arbeite, fehlt mir die Konzentration. Beim Lesen von Texten weiß ich am Ende der Seite nichts mehr vom Anfang.“ Ein typischer Cannabissüchtiger Martin ist für Professor Gerhard Bühringer von der Technischen Universität Dresden ein typischer Cannabissüchtiger. Denn vor allem ein früher Konsumbeginn führt schnell zur Abhängigkeit. Studien zeigen, dass 600.000 Deutsche die Kriterien für Cannabisabhängigkeit oder -missbrauch erfüllen. Insgesamt 12,5 Millionen Deutsche haben Erfahrungen mit der Droge. Cannabiskonsumenten haben häufig Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit, beim Lernen und mit ihrer Gedächtnisleistung. Gravierende Einbußen der schulischen Leistungen sind empirisch ebenso gut belegt wie Schulabbrüche. Vor allem Jugendliche, die vor dem fünfzehnten Lebensjahr mit dem Kiffen beginnen, müssen mit erheblichen Schäden rechnen. Denn durch längeren Cannabiskonsum geraten offenbar körpereigene Cannabinoide, die für die Hirnreifung bedeutsam sind, aus der Balance. Auch sehen Forscher im Cannabiskonsum eine mögliche Ursache für Psychosen. Mit dem Cannabismissbrauch hat in den vergangenen fünfzehn Jahren der Behandlungsbedarf enorm zugenommen. Zehnmal mehr Cannabisabhängige kommen heute zur ambulanten Suchtkrankenhilfe als noch Mitte der neunziger Jahre. „Deutschland hat insgesamt eine gute therapeutische Versorgungsstruktur für Abhängige, ist jedoch anders als Australien oder Amerika nicht optimal auf die Behandlung von Cannabiskonsumenten vorbereitet“, meint Bühringer, der als Suchtforscher am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Dresdner Universität tätig ist. Ein sechzehn Jahre alter Kiffer brauche andere Hilfe als ein doppelt so alter Heroinabhängiger oder ein Alkoholiker. Hinzu kommt, dass Cannabis im Vergleich zu anderen Rauschgiften und selbst Alkohol auch von Fachleuten lange als harmlos eingestuft wurde. Noch vor wenigen Jahren hörten besorgte Eltern in Beratungsstellen manchmal: „Was, Ihr Kind kifft nur? Seien Sie doch froh!“ Die Entwöhnungstherapie Candis Vor vier Jahren begann unter der Leitung der Psychologin Eva Hoch die Arbeit an einem psychotherapeutischen Behandlungsmodell speziell für Kiffer. Seit Frühjahr 2006 nahmen an der dreistufigen Entwöhnungstherapie Candis 122 Cannabissüchtige im Alter zwischen 16 und 46 Jahren teil, 80 Prozent von ihnen Männer. Im Durchschnitt konsumierten sie seit dem fünfzehnten Lebensjahr. Der Erfolg nach den acht- bis zwölfwöchigen Entwöhnungstherapien: 80 Prozent der Teilnehmer wurden abstinent oder schränkten ihren Konsum drastisch ein. Das langfristige Ergebnis wird derzeit in Nachuntersuchungen geprüft. Die Therapie folgt einem klar strukturierten Plan. In der ersten Einheit diskutiert ein Therapeut der Candis-Gruppe mit Martin über die Vor- und Nachteile des Kiffens. Er reflektiert über seine wichtigsten Konsummotive, seine wichtigsten Motive aufzuhören, die persönlichen Auslösereize für das Kiffen (der Anblick seiner Couchecke, in der er raucht), die Treffen mit seinem Freund Alex. Im zweiten Teil, einer Verhaltenstherapie, lernt Martin Strategien, den Konsum einzuschränken. Schon in der vierten Sitzung entschließt er sich, für sechs Monate gar nicht mehr zu rauchen. Sein Therapeut erklärt, dass es durch den regelmäßigen Konsum zu Umbauprozessen im Gehirn gekommen ist. Diese Prozesse und damit die Entzugserscheinungen lassen sich nur durch Abstinenz rückgängig machen. Das vermeintlich leichtere Ziel Einschränkung ist also tatsächlich schwerer zu erreichen als ein vollständiger Verzicht. Motivation und Unterstützung Schon zwei Tage später soll es losgehen. In seinem Zimmer löst Martin seine Kifferecke auf, um einen Auslösereiz zu beseitigen. Tagsüber plant er, viel Sport zu treiben und Museen zu besuchen, für die Abende hat er sich mit Kommilitonen verabredet, die er schon lange nicht mehr gesehen hat. Drei Tage lang hält Martin durch, doch dann findet er einen Joint in einer Jackentasche und raucht ihn, ohne nachzudenken. Martin ist bedrückt, doch sein Therapeut lobt ihn für die Abstinenz in den Tagen davor. „Die wertschätzende, nicht beurteilende Grundhaltung dem Patienten gegenüber ist sehr wichtig“, sagt Psychologe René Noack vom Candis-Projekt. Früher seien Therapeuten bei Rückfällen konfrontativ wie in einem Verhör vorgegangen, sagt Bühringer. Ein Rückfall habe als Zeichen dafür gegolten, dass es noch nicht schlimm genug sei. „Die Idee war, dass eine Suchtpersönlichkeit zerstört werden muss, bevor man wieder neu aufbauen kann. Mit Candis setzen wir dagegen auf Motivation und Unterstützung durch eine kognitiv-behaviorale Therapie und ein psychosoziales Problemlösetraining.“ Auch bei Martin wirkt dieses Rezept. Er berichtet, wie er eine Wasserpfeife von einer der Dresdner Elbbrücken aus versenkt hat. Es war ein symbolischer Akt für ihn. Stolz zählt er die Tage auf, die er seither ausgekommen ist, ohne zu kiffen. Nun geht es in den Therapiestunden vornehmlich darum, Rückfällen vorzubeugen. Als gefährlichste Situationen identifiziert der Student Partys, vor allem, wenn er schon alkoholisiert ist. Eine Herausforderung werde auch sein, seine alten Bekannten in Hamburg zu besuchen. Bestimmt werde da wieder Cannabis geraucht. In einer seiner letzten Therapiestunden bereitet sich Martin in einem Rollenspiel darauf vor, der Versuchung zu widerstehen. Der ungewöhnliche Dresdner Erfolg Martin ist bis heute clean geblieben. Etwa die Hälfte der Candis-Teilnehmer schaffte das ebenfalls, weitere 30 Prozent reduzierten ihren Cannabiskonsum deutlich. Auch drei Monate danach blieb der Behandlungserfolg stabil. Mittlerweile hat der ungewöhnliche Dresdner Erfolg breite Resonanz nicht nur in der Fachwelt gefunden. Unterstützt vom Bundesgesundheitsministerium, soll Candis in zehn Suchthilfezentren in ganz Deutschland eingeführt werden. Bis Ende 2009 soll in der Folgestudie Candis II die Wirksamkeit der Behandlungsform unter Routinebedingungen mit weiteren 450 Cannabissüchtigen erprobt werden. Wie groß der Bedarf ist, zeigt sich auch daran, dass sich mehr als 50 Beratungsstellen bei den Dresdner Wissenschaftlern für die Teilnahme beworben haben. Ende Februar soll das umfangreiche Auswahlverfahren abgeschlossen sein. Text: F.A.Z., 19.02.2008, Nr. 42 / Seite 11

Von cannabinus

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