Kaum Chancen auf einen Durchbruch
Hanf für medizinische Zwecke einzusetzen, ist zwar erlaubt, der Anbau aber nicht. Am Dienstag befasst sich ein Gericht damit, was kranken Menschen gut tun darf.
VON HEIKE HAARHOFF
Es kann passieren, dass Michael Fischer urplötzlich das Wasserglas entgleitet. Dann muss er sehen, wie er die Scherben vom Küchenboden aufgesammelt bekommt. Das sind die besseren Tage. An schlechteren stürzt er auf dem Weg zur Toilette in seiner kleinen Mannheimer Wohnung. Oder ihm wird im Sessel schwindelig. Lesen kann der 47 Jahre alte Mann schon lange nicht mehr, sprechen nur mit Mühe, die Wohnung verlässt er stets in Begleitung.
Schuld ist seine Muskelkoordination, die seit Jahren schwer beeinträchtigt ist, verbunden mit Gleichgewichtsstörungen und der Unfähigkeit, Bewegungen zielgerichtet auszuführen. Hinzu kommen Spasmen, Lähmungserscheinungen, Schmerzen. Einen klangvollen Namen hält die medizinische Fachsprache bereit für die Symptome, die Michael Fischers eigentliche Krankheit, die Multiple Sklerose, seit 25 Jahren begleiten: Ataxie.
Auf Griechisch heißt das so viel wie „nicht geordnet“; übersetzt in Michael Fischers Alltag, bedeutet es ein Leben ohne Chancen auf Heilung und, ebenso unerträglich, ohne behördliche Erlaubnis für die einzige Therapie, die ihm nach Einschätzung medizinischer Gutachter zumindest Linderung bringt und seine Gehfähigkeit erhalten hilft: Cannabis. Alle anderen Medikamente haben versagt – oder sind schlicht unbezahlbar.
Unbefugter Zugriff
Aus dieser finanziellen wie therapeutischen Not heraus baut Michael Fischer den Hanf im Bad seiner Wohnung selbst an, zum Eigenkonsum aus medizinischen Gründen, und macht sich deswegen – nicht strafbar. Das ist die eine Lesart, bestätigt 2003, 2004 und 2005 in Urteilen von Strafrichtern diverser Instanzen.
Die andere Lesart ist eine politische, diktiert vom Bundesgesundheitsministerium, Deutschlands oberster Betäubungsmittelkontrollbehörde, wider die Auffassung der eigenen Fachleute. Sie geht, zugespitzt, so: Michael Fischer, 47 Jahre, MS-Patient, arbeitsunfähiger Fliesenleger, seit bald zehn Jahren frühverrentet, droht in seiner Mannheimer Wohnung eine Rauschgiftplantage zu betreiben, welche vor dem Zugriff Unbefugter nicht zuverlässig gesichert werden kann – und daher unzulässig ist. Ab Dienstag befasst sich das Verwaltungsgericht Köln mit Fischers Klage auf das Recht auf Eigenanbau von Cannabis zu medizinischen Zwecken: Michael Fischer gegen die Bundesrepublik Deutschland.
Gekämpft wird mit harten ideologischen Bandagen. „Das Interesse (…) an einer Versorgung und Behandlung mit selbst angebautem Cannabis in seiner Privatwohnung muss gegenüber dem Schutzinteresse der Bevölkerung zurückstehen“, heißt es in dem Widerspruchsbescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 10. 8. 2010, der der taz vorliegt. Begründung: „Beim Anbau in einem einzigen Badezimmer einer 2-Zimmer-Wohnung (…) ist ein Zugang Dritter unvermeidbar; insbesondere der Anbau ist für jeden Besucher unmittelbar ersichtlich und ein direkter Zugriff auf die angebauten Pflanzen durch Nicht-Erlaubnisinhaber möglich.“
„Ums Gesundwerden geht es schon lange nicht mehr“, sagt Michael Fischers Lebensgefährtin Gabi Gebhardt. „Es geht um ein bisschen Lebensqualität für die Zeit, die ihm bleibt.“ Lebensqualität, die sich durchaus herstellen ließe: In begründeten Einzelfällen kann das BfArM, das der Fachaufsicht des Bundesgesundheitsministeriums untersteht, Schwerkranken und Schmerzpatienten nach dem Betäubungsmittelgesetz eine Ausnahmegenehmigung für die Selbsttherapie mit Cannabisprodukten erteilen. „Eine Erlaubnis kann dann erteilt werden, wenn zur Behandlung der Erkrankung bzw. der bestehenden Symptomatik keine Therapieoptionen mit zugelassenen Fertigarzneimitteln bzw. Rezepturarzneimitteln zur Verfügung stehen oder eine Behandlung mit diesen aus anderen Gründen nicht in Betracht kommen“, bestätigt das BfArM auf Anfrage. 42 Patienten in Deutschland, darunter Querschnittsgelähmte, Krebskranke, MS-Patienten, besitzen derzeit eine solche Erlaubnis für den Einsatz cannabishaltiger Produkte, kein einziger bislang jedoch für den Anbau der Stecklinge.
Bei Michael Fischer sah zunächst alles danach aus, als erfülle er sämtliche Kriterien: Die herkömmlichen Medikamente zur Behandlung Multipler Sklerose hatten bei ihm viele unerwünschte Nebenwirkungen gezeigt, die Ataxie hingegen schwächten sie nicht ab. Ähnlich verhielt es sich mit Morphinen und Opiaten, die häufig zur Schmerzlinderung eingesetzt werden: Michael Fischer wurde schlecht von ihnen; die entspannende Wirkung, die seine Muskeln brauchen, damit er sie besser koordinieren kann, ließ sich so nicht erzielen. Blieb Cannabis – und die Notwendigkeit, den Hanf mit der Hilfe seiner Lebensgefährtin selbst zu züchten.
„Mein Mandant betreibt dieses Verfahren nicht, weil er das BfArM verärgern will“, empört sich Michael Fischers Anwalt Oliver Tolmein von der Kanzlei Menschen und Rechte. Es bleibe ihm aus Kostengründen nichts anderes übrig: Die Alternativen, Medizinalhanf aus Holland, also Cannabis aus kontrolliertem Anbau, sowie der cannabishaltige Wirkstoff Dronabinol, der in Deutschland als Rezepturarzneimittel von Ärzten verschrieben werden kann und weitaus besser kontrollierbar und dosierbar ist als selbst angebauter Hanf, dürfte er sich mit einer Ausnahmegenehmigung zwar kaufen. Von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aber werden sie nicht erstattet. Ihnen fehlt die arzneimittelrechtliche Zulassung.
Michael Fischer bekommt 850 Euro Rente – in etwa so viel, wie ihn das aus therapeutischer Sicht zu bevorzugende Dronabinol monatlich kosten würde. Er hat geklagt deswegen, bis vor das Bundessozialgericht, doch die Kostenübernahme durch die GKV im Ausnahmefall wurde abgelehnt. Diese setze voraus, „dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt. Daran fehlt es.“ Anders ausgedrückt: Wäre gesichert, dass Michael Fischer demnächst ablebt, dann lägen die Dinge in puncto Kostenerstattung möglicherweise anders.
So viel Zynismus ist selbst den Fachleuten des BfArM zuwider, die den Antrag auf Cannabis-Eigenanbau im Sommer 2010 prüfen sollen. Im Anschluss an einen Erörterungstermin vor dem Verwaltungsgericht Köln Ende März 2010, bei dem Michael Fischer ausführlich darlegt, wie er sein Bad vor Einbrechern und die Hanfpflanzen vor Fremdkonsumenten schützen will, verfassen sie ein positives Votum. Es soll Grundlage werden für den behördlichen Genehmigungsbescheid. In dem internen Papier vom 29. Juni 2010 heißt es: „Die von dem Kläger vorgeschlagenen Sicherungsmaßnahmen sind aus fachlicher Sicht zur Sicherung des Betäubungsmittelverkehrs geeignet und ausreichend. Dies gilt insbesondere für eine Sicherung der dreifach verriegelten Tür mit einem Fingerprintschloss. Eine zusätzliche Installation einer Kamera für seltene Fälle der Abwesenheit erscheint unverhältnismäßig und nicht erforderlich.“
Vorsorglich weisen die BfArM-Fachkollegen die ideologischen Gegner im eigenen Haus, für die allein der Gedanke an eine Liberalisierung des Hanfkonsums zu medizinischen Zwecken der Anfang einer Drogenrepublik Deutschland ist, auch juristisch in ihre Schranken: Eine Ausnahmegenehmigung verstoße keinesfalls gegen internationales Recht. Dieses verlangt nämlich von Ländern, die Cannabis-Eigenanbau tolerieren, normalerweise die Einrichtung einer – in Deutschland nicht existenten – nationalen Cannabis-Agentur zum Aufkauf und zur Kontrolle der Ernte. Aber: „Die Entscheidung, gem. § 5 Abs. 2 BtMG (Versagung einer Erlaubnis, weil Durchführung im Widerspruch zum internationalen Abkommen steht) ist eine Ermessensentscheidung (Kannvorschrift).“
Unverzüglich Widerspruch
Die bürgerliche Regierung erlaubt den Anbau der Kifferdroge Nummer eins in Privatwohnungen? Es gibt Schlagzeilen, die müssen verhindert werden. Cannabis, das ist für viele im Ministerium immer noch die Droge schlechthin, die Droge der Leistungsverweigerer, der Aussteiger; eine Droge, gefährlich allein dadurch, dass sie so leicht anzubauen ist. Am 16. Juli 2010, knappe zwei Wochen später, schaltet sich Dr. Erhard Schmidt, Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung 1 Arzneimittel, Medizinprodukte, Biotechnologie im Bundesministerium für Gesundheit, persönlich in das Verfahren ein. Sein Fax an das BfArM, Betreff „Ihr Bericht vom 29. 06. 2010“, ist zwei Seiten kurz und vernichtend: „Es wird gebeten, im vorliegenden Verfahren nunmehr unverzüglich einen Widerspruchsbescheid zu erlassen.“ Das Wort „unverzüglich“ ist handschriftlich unterstrichen. Sodann wird das BfArM gemaßregelt: „Gründe für eine Ermessensreduzierung auf Null sind nicht ersichtlich. Die Zwecke des BtMG (notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung bzw. im vorliegenden Fall des Klägers) gebieten hier nicht die Erlaubniserteilung.“ Das Schreiben endet harsch: „Um rechtzeitige Vorlage des Entwurfs des Widerspruchsbescheids vor Abgang wird gebeten.“
Michael Fischer erfährt per Widerspruchsbescheid vom 10. August 2010 durch das BfArM, wie ein behördlicher Maulkorb funktioniert: Die von ihm geplanten „Sicherheitsauflagen als milderes Mittel zur Sicherstellung eines erlaubnisfähigen Anbaus“ sind nunmehr „nicht möglich“, weil „neben der Lebensgefährtin eine Krankengymnastin die Wohnung regelmäßig aufsucht“. Überdies wird plötzlich die Einrichtung einer nationalen Cannabis-Agentur für zwingend notwendig gehalten, bevor eine Eigenanbaugenehmigung erteilt werden kann. Und schließlich die Ohrfeige: Der Cannabis-Eigenanbau stelle „keine kostengünstige Therapiealternative“ dar.
Es sind dieselben Kollegen, die noch am 29. Juni 2010 Michael Fischers Antrag positiv bescheiden wollten, die nun am 10. August 2010 auf Anweisung der Behördenspitze den Widerspruchsbescheid verfassen müssen. Und das, so antwortet das BfArM auf eine Anfrage der taz, sei im Behördenalltag kein Einzelfall: „In Fällen mit grundsätzlicher Bedeutung erfolgt eine intensive fachliche Abstimmung mit dem Bundesministerium für Gesundheit als Fachaufsicht. Im Rahmen dieser Abstimmungsprozesse sind die von Ihnen angesprochenen Abweichungen von Einschätzungen in Initiativberichten in der frühen Bewertungsphase gegenüber den späteren Bescheiden nicht unüblich.“
Quelle: taz.de