Wenn es in Deutschland noch Genies gibt, dann gehört Friedrich Kittler zu ihnen. Der Medienhistoriker weiß ebensoviel über Drogen wie über Waffen, er kennt den Krieg so gut wie die Liebe. Und seine Doktoranden fliegen im Eurofighter nach Afghanistan. Ein Werkstattgespräch von Andreas Rosenfelder
Friedrich Kittler bewohnt eine gutbürgerliche Altbauwohnung im Berliner Stadtteil Treptow, nahe beim Sowjetischen Ehrenmal. In seinen Bücherregalen stehen Erstausgaben der Werke Stefan Georges, auf seinem Schreibtisch liegen Computerfachzeitschriften und ein Buch über Schacheröffnungen, außerdem eine angebrochene Stange Zigaretten der Marke Benson & Hedges. Auf einem Zettel sind ein paar Zeilen in Programmiersprache notiert.
Es gibt in Deutschland wohl niemanden, der so sehr dem Klischee des verrückten Professors entspricht wie der 1943 in Sachsen geborene Literaturwissenschaftler mit seinem inzwischen schlohweißen Haarschopf und dem üppigen Schnurrbart. Und es gibt keinen zweiten Geisteswissenschaftler, der sich so weit vorgewagt hätte ins Dickicht der Mediengeschichte, der nicht nur über Grammophon, Film und Schreibmaschine, sondern auch über E-Gitarren und Artillerieraketen geforscht hat. Seit letztem Jahr ist Kittler, der in Freiburg promoviert und habilitiert hat und danach Professor in Bochum und Berlin war, ein Emeritus. Seine Manuskripte, Tagebücher und Briefe, zu denen auch Korrespondenzen mit großen Philosophen wie Jacques Derrida und Michel Foucault gehören, übereignete er vor wenigen Wochen dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Damit schließt sich die vielleicht wildeste Unternehmung der jüngeren deutschen Geistesgeschichte vorläufig zu einem Lebenswerk.
Welt am Sonntag: Herr Kittler, gruselt es Sie beim Gedanken, schon zu Lebzeiten ins Marbacher Archiv einzuziehen? Eigentlich ist das ja ein Club der toten Dichter.
Friedrich Kittler: Über den Moriturus-Aspekt, also die eigene Sterblichkeit, wollen wir jetzt nicht reden. Es ging den Marbachern ja auch nicht ums abgeschlossene Werk, die wollen ihre Zettel und Entwürfe. Und die wollen meine Elektronik, wenn ich mal weg bin. Als ich Student war, zitierte mein Lieblingsdozent immer Aischylos: Das Wissen ist eine Fackel, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Welt am Sonntag: Der durchschnittliche deutsche Professor kann nicht einmal seine E-Mails allein beantworten. Sie haben schon in den Achtzigern Ihre Computer aufgeschraubt. Erwartet uns eine Edition Ihrer gesammelten Festplatten?
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Friedrich Kittler: Ich habe versucht, zumindest die Dateien aufzuheben. Aber die meisten alten CDs sind jetzt kaputt. Meine Zettelkästen dagegen stehen noch hier im Nebenzimmer. Mit Schreibmaschine verfasst, ganz ordentlich geführt.
Welt am Sonntag: Was wird die Zukunft damit anfangen?
Friedrich Kittler: Als ich das Christusalter von 33 Jahren erreichte, guckte ich meinen Zettelkasten an und stellte fest, wie viele Themen ich angesammelt hatte, über die ich noch schreiben wollte. Aber dieses Leben reicht dafür nicht. Alle Farben, die der Mond in der Lyrik je bekommen hat, sind da zum Beispiel aufgeführt, auf orangenen DIN-A6-Zetteln. Ich habe das tröstliche Gefühl, dass jemand, der wissen will, wie meine ungeschriebenen Bücher aussehen könnten, das ganz gut rekonstruieren könnte, falls ich plötzlich umfalle.
Welt am Sonntag: Das Alter von Ernst Jünger, dessen Nachlass gerade in Marbach gezeigt wird, sollten Sie doch noch einholen.
Friedrich Kittler: Na, hoffen wir es einmal. Meine Ärzte sind zufriedener mit mir als ich.
Welt am Sonntag: Die Fackel der Theorie haben Sie schon weitergereicht. Sie haben namhafte Schüler wie Norbert Bolz hervorgebracht, man spricht sogar von der „Kittlerjugend“.
Friedrich Kittler: Kürzlich, in Wien, spazierte an einem Sonntagmorgen ein frischgebackener Doktor der Philosophie in mein Hotelzimmer und überreichte mir seine Dissertation, deren Thema einzig und allein meine Habilitationsschrift war, „Die Aufschreibesysteme“. Als ich ihn vor ein paar Jahren kennengelernt hatte, war er ein ordentlicher Mensch, brav angezogen. Jetzt schien er ein bisschen verwildert. Seine Arbeit bestand übrigens in dem Nachweis, dass die „Aufschreibesysteme“ von Drogen, Wahnsinn und Räuschen handeln.
Welt am Sonntag: Trifft diese Analyse zu?
Friedrich Kittler: In meinem Verständnis war das eher ein cooles, klassizistisches Werk. Aber unbürgerlich war es schon. Und die Freiburger Germanistik, die 13 Gutachten statt der üblichen 3 brauchte, um die Habilitation durchzuwinken, die war bürgerlich bis in die Knochen. Bis hin zum feierlichen Theaterbesuch mit Ehegattin und zum Kirchgang.
Welt am Sonntag: Wie viel Rausch steckt in Ihrer Theorie?
Friedrich Kittler: Es ist immer schwer, den ersten Satz zu finden. Und bei den „Aufschreibesystemen“, wo es um die Wurst ging, nämlich um meinen Beruf, da war es am allerschwersten. Also habe ich mir einen Joint gedreht und das erste Kapitel, das von Goethes „Faust“ handelt, leicht bekifft geschrieben. Mein Vater hatte mich zum Vorführkind erzogen, deshalb kannte ich den „Faust“ schon als Kind auswendig, ich musste also nicht bei Goethe nachschlagen. Für die späteren Kapitel musste ich blättern, das ging nur nüchtern.
Welt am Sonntag: Normalerweise entstehen allenfalls Popsongs unter Drogeneinfluss, keine Abhandlungen.
Friedrich Kittler: Es gibt die Vermutung, dass Hegel seine „Phänomenologie des Geistes“ unter Haschischeinfluss geschrieben hat. Er konsumierte „starken Tobak“, das war um 1800 ein mit Cannabis durchsetzter Schnupftabak. So wie ja auch die Schnuller für die Säuglinge damals Laudanum enthielten, also Opium. Erst um 1903 hat Coca-Cola, wie Thomas Pynchon bemerkt, das Kokain aus der Cola genommen. Auch Pynchon schreibt ja einerseits drogiert und andererseits ganz technisch.
Welt am Sonntag: Aber Sie haben das, anders als Pynchon, in einer Beamtenkarriere untergebracht.
Friedrich Kittler: Mich haben die verbotenen Nebenleben deutscher Professoren immer fasziniert. Der Philologe Friedrich Kreuzer brach um 1800 mit der Dichterin Karoline von Günderrode seine Ehe, was mit einem Skandal endete, als die Geliebte sich umbrachte. Hegel zeugte in Jena mit seiner Zimmervermieterin einen unehelichen Sohn, den hat er so verschmäht, dass der arme Kerl sich bei den holländischen Kolonialstreitkräften verdingte und in Indonesien an der Malaria verschied. Es gibt Anekdoten über Geistesgrößen der alten Bundesrepublik, die ich Ihnen nicht erzählen kann, solange dieses Aufnahmegerät läuft.
Welt am Sonntag: Sie haben Aufsätze über Pink Floyd und Jimi Hendrix geschrieben. Haben Sie auch selbst Musik gemacht?
Friedrich Kittler: In meinem Freiburger Wohnzimmer habe ich mir einmal einen monophonen Synthesizer gebastelt. Den spielte mein Freund, der Philosoph Klaus Theweleit, mit einem Finger. Ich bediente die Regler und Effekte.
Welt am Sonntag: Als jemand, der gerne an Rechnern herumschraubt, müssten Sie sich in der Hackerszene zu Hause fühlen.
Friedrich Kittler: Beim Chaos Computer Club war ich schon öfter zu Gast. Dieser kleine Chip hier ist ein sowjetisches ROM, ein Read Only Memory, das man durch dieses Fenster hier löschen kann, mit Ultraviolettlicht. Das hat mir eine Dame vom CCC als Ansteckschmuck geschenkt.
Welt am Sonntag: Hacker lieben Verschwörungstheorien.
Friedrich Kittler: Ich teile diese Paranoia ein bisschen. Ein Beispiel: Eigentlich haben Alan Turing und die englischen Geheimdienstler die ersten funktionsfähigen Computer gebaut. Aber England hing so sehr an der Dollarbrust der USA, dass sie ihre Computergeheimnisse 1944 per Unterschrift auslieferten. Dem Rest der Welt gegenüber wurde die Existenz des Computers bis 1974 verschwiegen, oder zumindest die Tatsache, dass man mit Computern den Geheimfunk der Wehrmacht geknackt hat. Es war strikt verboten, das auszusprechen, damit man dieselben Algorithmen auf die Rote Armee und den KGB richten konnte. Truman und Churchill haben im Cäcilienhof in Potsdam ausgemacht, Stalin nichts von diesen Dingen zu verraten. Man behauptete, ein General Walther im Oberkommando der Wehrmacht habe die Codes verraten. Der Mann existierte aber gar nicht.
Welt am Sonntag: Interessieren Sie sich für Facebook?
Friedrich Kittler: Nein, damit habe ich nun wirklich nichts am Hut. Ich habe das unheimliche Gefühl, dass die Leute derart unwichtig geworden sind für die, die herrschen und wirtschaften, dass die Selbstdarstellung ihre letzte Rettung ist. Als ich das erste Mal in Kalifornien ankam und die Telegraph Avenue in Berkeley in Richtung Campus hochging, da kam ich an einer Spielwiese vorbei, auf der lauter Selbstdarsteller herumliefen. Leute, die sich als Harlekin verkleideten, bettelten oder kifften. Als ich dann den Campus betrat und die Leuten dort anschaute, schlugen sie die Augen nieder. Entweder sind die Menschen völlig depressiv, oder sie veranstalten eine riesige Selbstdarstellung und telefonieren im Zugrestaurant.
Welt am Sonntag: Haben Sie „Social Network“ gesehen, den Film über Mark Zuckerberg?
Friedrich Kittler: Nein.
Welt am Sonntag: Die Kurzfassung: Mark Zuckerberg erfindet Facebook, weil er bei den Frauen nicht ankommt.
Friedrich Kittler: Das bringt mich auf eine meiner Lieblingsfragen: Wie postpubertäre Askese mit Innovation zusammenhängt. Als Mann ist man heute mit 13 imstande, ein Kind zu zeugen. In meiner Generation schlief man erst mit 20 oder 21 mit der ersten Frau und ging dieses Risiko ein. In der Zwischenzeit hatte man seine schlagenden Ideen. Der Programmierer Linus Thorvald schreibt in seiner Autobiografie: „Ich habe kein Bier getrunken, ich habe keine Freundin gehabt, ich habe Linux geschrieben.“ Wenn Gymnasiasten schon mit 14 Sex haben, dann schrumpft diese Latenzzeit. Was das für die Kultur der Zukunft bedeutet, ist eine offene Frage. Entwickelt sie eine andere Art von Fantasie? Verschwindet die Fantasie?
Welt am Sonntag: Heißt das, man muss als junges Genie sexuell unausgelastet sein?
Friedrich Kittler: Das ist reine Empirie, ich will Ihnen keine christliche Moral verkaufen. Ich wurde in der DDR eingeschult, war auf dem sächsischen Dorf, wo wir bis zu unserer Republikflucht wohnten, mit lauter Dorfbuben und Dorfmädchen zusammen. Mit 14, 15 hatten die alle ihren ersten Sex. Aber aus denen sind auch keine Linux-Erfinder geworden.
Welt am Sonntag: Sie sind 1943 geboren und heißen Friedrich Adolf Kittler. War Hitler Ihr Namenspate?
Friedrich Kittler: Nein. Mein Vater musste eine Sondergenehmigung ergattern, um mich Adolf nennen zu dürfen. Sonst hätte damals jeder fünfte Neugeborene so geheißen. Friedrich heiße ich nach meinem Onkel, der im Krieg fiel, Adolf nach meinem Vater. Der war am Tag der Schlacht von Lützen geboren und hieß nach Gustav Adolf, dem Schwedenkönig. Mein Vater litt unter dem Namen Gustav und ließ ihn im Lauf seines Lebens verschwinden. Bei mir war es mit dem Adolf genauso.
Welt am Sonntag: Hat man Sie jemals Adolf genannt?
Friedrich Kittler: Ich hieß als Kind nur“Azzo“, das muss ein Kosename gewesen sein, den schon mein Vater von einer außerehelichen Geliebten verpasst bekommen hatte. Erst 1975 habe ich beschlossen: Ich heiße Friedrich und muss nicht immer erklären, warum ich heiße, wie ich heiße. Meine Liebsten nennen mich aber heute noch „Azzo“. An „Friedrich Kittler“ habe ich mich gewöhnt, aber wenn meine Frau einfach nur „Friedrich“ sagt, zucke ich immer noch ein bisschen zusammen.
Welt am Sonntag: Das klingt fast so, als sei schon Ihr Name ein komplizierter Code.
Friedrich Kittler: Ach, ich habe so viele schreckliche Anomalien mitbekommen. Ich wurde als Linkshänder geboren und musste in der ersten Klasse auf rechts umlernen. Ich habe Spiegelschrift geschrieben vor der Einschulung. Zu Hause waren wir deutschnational, in der Schule aber musste ich tun, als seien wir kommunistisch. Mir kommt das alles wie ein Fluch vor. Als Kind hatte ich einmal eine Biografie Friedrichs des Großen vor mir aufgebaut und damit begonnen, einen Reiter auf einem sich aufbäumenden Pferd abzumalen. Meine Mutter blickte mir über die Schulter und fragte: „Warum schaut denn dein Pferd nach rechts und das Pferd im Buch nach links?“ Das muss ein furchtbarer Schock gewesen sein, ich habe einen Blackout an dieser Stelle.
Welt am Sonntag: Viele aus Ihrer Generation haben einen heftigen Konflikt mit den Vätern ausgetragen.
Friedrich Kittler: Zeitweise hat jeder solche Konflikte, aber das war bei meinem Vater nicht schlimm. Ich bin derart sein Kind, sein Sohn, dass man es kaum beschreiben kann. Mein Vater war Oberstudiendirektor, er leitete ein großes Gymnasium in Sachsen. Die Russen haben ihn dann aus seinem Gymnasium geschmissen, sodass er den ganzen Tag Zeit hatte, mich und meinen Bruder Wolf zu unterrichten. Die Dorfschullehrer, die nach ihrer kommunistischen Standfestigkeit ausgesucht waren, konnten da schwer konkurrieren.
Welt am Sonntag: Das Thema des Lernens, der Alphabetisierung, das hat Sie immer beschäftigt.
Friedrich Kittler: Wir haben keine anderen Quellen. Wir haben nur uns selber, um daraus zu schöpfen.
Welt am Sonntag: Haben Sie selbst Kinder?
Friedrich Kittler: Nein, aber ich bin seit 1994 zum zweiten Mal verheiratet. Meine Frau hat sich zuletzt ungeheuer in den Krankheitsfällen verdient gemacht. Ich war der Koch in dieser Ehe, als wir uns kennenlernten. Jetzt bekocht sie mich. Leider leide ich seit einer Verdauungsoperation im letzten Jahr an grässlicher Appetitlosigkeit.
Welt am Sonntag: Sie haben sich intensiv mit dem Krieg beschäftigt und Medien als Nebenprodukte des Krieges betrachtet, bis hin zur Rockmusik.
Friedrich Kittler: Ich bin eben noch ganz ein Kind des Zweiten Weltkriegs. Mein älterer Halbbruder war im Krieg Radar-Elektroingenieur, mein Onkel ist im russischen Gefangenentransportwagen verblutet. Mein Vater wurde im August 1914 als stinknormaler Infanterist mobilgemacht, und 1917 sieht man ihn schon als Obergefreiten und Militärgeologen. Offenbar hat er Schützengräben vermessen, anstatt darin zu krepieren. Im Zweiten Weltkrieg hat er dann als Major in Frankreich geschaut, welche Brücken von welchem Panzertyp befahren werden können.
Welt am Sonntag: Sie selbst hatten nie eine Waffe in der Hand?
Friedrich Kittler: Nein. Mein Bruder Wolf ist Leutnant der Reserve bei den Funkertruppen und ganz stolz darauf. Mich wollten sie im dritten Semester noch einziehen, und das war verboten.
Welt am Sonntag: Woher kommt Ihr verschärftes Interesse an der V2, der „Wunderwaffe“ der Nazis?
Friedrich Kittler: Als Kind habe ich die Sommerferien immer auf Usedom verbracht. Dort bin ich über die Bombenspuren von Peenemünde gestolpert, über die in der DDR niemand reden durfte. Später, in Kalifornien, las ich Pynchons „Enden der Parabel“, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Auf Usedom war nach dem Krieg trotz der britischen Bomben noch alles asphaltiert. Der kleinste Waldweg war V2-tauglich gemacht worden. Das schreit einen nicht ganz blinden Zehnjährigen fast schon an: Was ist hier das Rätsel?
Welt am Sonntag: Zum Krieg haben Sie nie eine Meinung kundgetan, nie Anti-Kriegs-Theorie betrieben.
Friedrich Kittler: Bei meiner einzigen Fünf-Minuten-Begegnung mit Habermas, es war in Amsterdam, hat er mir genau das unter vier Augen vorgeworfen: Meine historischen Analysen seien okay, aber ich ließe die Parteilichkeit vermissen.
Welt am Sonntag: Als 1968 die Studenten in Freiburg gegen Vietnam demonstrierten, hielten Sie ein Plakat mit der Heidegger-Losung „Sein und Zeit“ hoch. Eine bewusste Distanzierung?
Friedrich Kittler: Ja. Ich war als Kind von Napoleon so fasziniert, Sie können sich das gar nicht vorstellen.
Welt am Sonntag: Nehmen Sie auch an den gegenwärtigen, den sogenannten „Neuen Kriegen“ anteil?
Friedrich Kittler: Einer meiner Doktoranden ist Oberstleutnant der Luftwaffe, stellvertretender Kommandant eines Geschwaders. Der hat Tornado geflogen, jetzt bringt er den Leuten den Eurofighter bei. Ende Mai geht es für ihn nach Afghanistan, wir müssen vorher noch das Rigorosum durchziehen. Der Mann vertritt eine echte Ethik des Kriegers. Er sagt, die Bundeswehroffiziere hätten großen Respekt vor den Taliban-Kommandeuren und umgekehrt. Das würde teilweise auch für die amerikanische Armee gelten, aber nur teilweise. Denn während die US Army sich an Kriegsrecht hält, kommen nachts die Special Forces, und die schießen auch Frauen und Kinder um.
Welt am Sonntag: Worüber promoviert denn Ihr Offizier?
Friedrich Kittler: Darüber, dass es Unsinn ist, den Krieg am Computer zu planen und letztlich auch als Computerspiel zu betreiben. Entscheidungen vor Ort sind nicht simulierbar.
Welt am Sonntag: Will er zurück in die Zeit, als es noch keine Computer gab?
Friedrich Kittler: Er will zurück zu Clausewitz, zur preußischen Auftragstaktik. Die funktioniert auf eigene Faust. Der Kommandant gibt das Ziel aus, und die Soldaten finden die Mittel. In der amerikanischen Armee dagegen wird mit Kadavergehorsam gedrillt. Das beschreibt auch der Jerusalemer Militärhistoriker Martin van Creveld: Ein Wehrmachtssoldat war im Zweiten Weltkrieg an Kampfkraft zehnmal stärker als ein Amerikaner.
Welt am Sonntag: Dann geht es im Krieg am Ende gar nicht um V2-Raketen und Verschlüsselungsmaschinen?
Friedrich Kittler: Es geht um Mannesmut, wenn man es so nennen will. Auch die „Aufschreibesysteme“ waren wohl mal ein Akt des Mannesmutes, fürchte ich.
Welt am Sonntag: In letzter Zeit haben Sie sich vom Krieg ab- und seinem Gegenpol zugewandt, der Liebe.
Friedrich Kittler: Über die Liebe will ich im Moment nicht sprechen. Da war ich nicht immer so tapfer.
Welt am Sonntag: Was interessiert Sie an der Liebe?
Friedrich Kittler: Was mich an der Liebe interessiert hat? Der Orgasmus. Wenn man in den Augen der Partnerin nur noch das Weiße sieht, dann ist man auch selber weg. „Im schwindelnden Augenblick des Koitus sind wir alle derselbe Mensch“, hat Borges einmal geschrieben.
Welt am Sonntag: Können Theoretiker lieben?
Friedrich Kittler: Meine erste Ehe, die auf Leben und Tod geschworen war, zerbrach an meinem anarchischen Forschen, auch an meinen Habilitationsschwierigkeiten. Ich saß damals in Stanford, mit zehn Stunden Zeitverschiebung, und meine Frau wird schon mitbekommen haben, dass ein paar Leute in Freiburg mich inzwischen für plemplem hielten. Als ich zurückkam, war sie ausgezogen. Ich war dann der Hahn im Korb junger Seminaristinnen, aber das war kein Trost für eine verlorene Frau. Alle glücklich verheirateten Väter unter meinen Freunden sagen heute: Sie haben die Kinder, ich habe die Bücher.
Welt am Sonntag: Schon als Freiburger Student sind Sie nach Straßburg gefahren, um den berühmten Psychoanalytiker Jacques Lacan zu hören. Haben Sie selbst einmal eine Analyse gemacht?
Friedrich Kittler: Ja, eine ganz stinknormale bei einem reizenden Psychiater, der viel mehr an meinen Gedanken interessiert war als an meiner Nikotinsucht oder meinen sexuellen Bedrängnissen. Ich glaube, der hat mir den Schreibblock weganalysiert. Wir waren damals alle ein bisschen durcheinander, auch durch das Haschisch. Einmal habe ich in Hamburg einen bösen Horrortrip gehabt, wir hatten vorher schlechten portugiesischen Rotwein getrunken. Meine Frau hielt mich für kurzfristig psychotisch, deshalb habe ich mich bei dem netten alten Mann auf die Couch gelegt, der meinem Vater sehr ähnlich war. Er war hochbegabt darin, Grimms Märchen auszulegen, und drehte immer den Spieß um. Er sagte: Die bösen Stiefeltern sind eigentlich die guten, die die Kinder aus dem Familienschlamm herausangeln. Die Kinder müssen in den Wald, die können nicht ewig zu Hause herumhocken. Und Sie, Herr Kittler?
Welt am Sonntag: Besteht der Reiz einer Psychoanalyse nicht darin, auf der Couch Literatur zu fabrizieren?
Friedrich Kittler: Ja. Vielleicht habe ich das auch heute ein bisschen gemacht.
Quelle: welt.de